10. Juni 2010

Aktuelles Urteil "Fall Emmely"


– fristlose Kündigung – unrechtmäßiges Einlösen aufgefundener Leergutbons

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 10.06.2010 die zweitinstanzliche Entscheidung zur Kündigung einer Supermarkt-Kassiererin wegen Unterschlagung von zwei Leergutbons aufgehoben.

Der 2. Senat des BAG hat - anders als die Vorinstanzen - die Klage der Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäftes stattgegeben, die ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst hatte. Die Klägerin war seit 1977 bei der Beklagten beschäftigt. Am 12.01.2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von 0,48 € und 0,82 € aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen reichte die Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf zehn Tage später bei der kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren. Im Prozess hatte die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen zu haben, und darauf verwiesen, sie habe sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht. Vor der Kündigung hatte sie erklärt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis trotz Widerspruch des Betriebsrates wegen eines dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß. Die Kündigung ist unwirksam. Der Vertragsverstoß ist schwerwiegend. Er berührte den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und hat damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen ist die Beklagte besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommenen geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Dagegen konnte das Prozessverhalten der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lasse keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfte sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung. Letztlich überwiegen angesichts der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Folgen die zu Gunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Dazu gehört insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufende Beschäftigung, durch die sich die Klägerin ein hohes Maß an Vertrauen erwarb. Dieses Vertrauen konnte durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der Abwägung war auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten Bedacht zu nehmen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken. Dabei hat das BAG aber ausdrücklich noch einmal betont, dass ein vorsätzlicher Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten eine fristlose Kündigung auch dann rechtfertigen kann, wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist. Umgekehrt ist aber nicht jede unmittelbar gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtete Vertragspflichtverletzung ohne weiteres ein Kündigungsgrund. Maßgeblich ist § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann eine fristlose Kündigung nur aus "wichtigem Grund" erfolgen. Ob ein "wichtiger Grund" vorliegt, muss vielmehr nach dem Gesetz "unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile" beurteilt werden. Dabei sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene "Vertrauenskapital", ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes; eine abschließende Aufzählung sei nach BAG nicht möglich. Insgesamt müsse sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen könne eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendige Vertrauen in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.

(vgl. Pressemitteilung Nr. 42/10 des BAG - www.bundesarbeitsgericht.de)

D9/D15795


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